Wenn ein Mensch gestorben ist, müssen die Angehörigen eine neue Balance im Umgang miteinander finden. Die Trauerfeier macht deutlich, wie sensibel manches Familiensystem ist. Als Trauerrednerin gilt es, nicht durch die Falltüren familiärer Spannungen abzustürzen. Andererseits kann das Wissen um Dynamiken in einer Familie helfen, in der Trauerfeier heilsame Impulse zu setzen.


Es gibt Momente am Grab, die man als Trauerrednerin nie vergisst

Im Laufe der Jahre habe ich als Trauerrednerin Erfahrungen mit Familiensystemen gesammelt. Ich nutze das Genogramm – für meine Belange optimiert – als Werkzeug in meinen Gesprächen. Das hat meine Art zu fragen verändert. Ich bin davon überzeugt, dass die Wirkung meiner Trauerreden und der vorausgehenden Gespräche nicht nur etwas mit sprachlicher oder literarischer Kompetenz zu tun haben, sondern vor allem mit meiner systemischen Herangehensweise. Wie wichtig es ist, dabei niemanden aus der Familie zu vergessen, hat mir eine Trauerfeier gezeigt.

Die Feier mit Beisetzung findet in meiner Geschichte im Bestattungswald statt (Namen und Umstände sind natürlich geändert). Ich habe das Gespräch mit den Kindern und der zweiten Frau des verstorbenen Mannes geführt. Wer noch zur Familie gehört, erfrage ich im Gespräch: ob der Verstorbene Geschwister hat, ob sie noch leben, ob sie bei der Trauerfeier anwesend sind. Für die Erinnerungen an die Kindheit ist es nicht unerheblich, ob jemand als Einzelkind, als Älteste von sieben Geschwistern oder als einziger Junge mit drei Schwestern aufgewachsen ist.

In diesem Fall hatte der Verstorbene eine Schwester. Wie das manchmal so ist: es gab wenig Kontakt zu dieser Schwester, sie war dement und seit Jahren im Pflegeheim. Sie war also auch nicht bei der Beerdigung anwesend.

Alle habe ich begrüßt und in der Rede erwähnt, die Kinder mit ihren Familien, die zweite Ehefrau mit ihren Kindern aus erster Ehe, die Arbeitskollegen, die Freunde. Die Schwester ist mir durchgerutscht. Ein Name in der Begrüßung, ein Satz in der Rede hätte gereicht: „Er wuchs zusammen mit seiner Schwester Marion bei seiner Mutter und dem Stief­vater auf.“

Wir waren also am Grab versammelt, ich war fertig und stand in der Nähe, als eine Frau ans Grab trat und laut und vernehmbar sagte: „Lieber Heinz, ich grüße dich ganz herzlich heute beim Abschied auch von deiner Schwester Marion.“ Das hat gesessen. Am Grab stand die Nichte des Verstorbenen. Siedend heiß ist mir eingefallen, dass ich vergessen habe, diese Schwester zu erwähnen.

Wenn die Rede insgesamt allgemein gehalten ist und ich nur mit „Liebe Familie, liebe Freunde“ begrüße und von den „Angehörigen“ spreche, dann wird das Fehlen der Schwester nicht wahrgenommen. Wenn aber andere namentlich begrüßt und genannt werden, muss die Nichte die Nichterwähnung ihrer Mutter als Kränkung wahrnehmen.

Ich bin zu ihr gegangen und habe mich dafür entschuldigt, dass ich es versäumt habe, ihre Mutter zu nennen. Wenig Trost war, dass der Bestatter mir später sagte, dass die Kinder der Verstobenen bereits vergessen hatten, ihre Tante in der Aufzählung der Hinterbliebenen mit in die Traueranzeige zu schreiben.

Erfahrungen mit Familiensystemen

Seit den 1980er Jahren lässt sich von einem eigenständigen Systemischen Ansatz in Beratung und Psychotherapie reden. Vierzig Jahre später hat dieser Ansatz eine beachtliche Verbreitung in die unterschiedlichen Berufsfeldern gefunden, wie die Familientherapie, die medizinische Anamnese, die sozialen Arbeit oder die Teamentwicklung in Unternehmen.

Von welchen Systemen sprechen wir? Systeme sind immer eine von außen beschriebene Gruppe von Menschen – eine Familie, ein Team, eine Schulklasse, ein Unternehmen. Jeder ist Teil von ganz unterschiedlichen Systemen und erlebt sowohl positive als auch negative Wirkungen der Verbindungen zwischen einzelnen Akteuren im System.

Wer auf das Familiensystem schaut, verlässt die Perspektive eines einzelnen Menschen und nimmt die Vogelperspektive ein. Der verstorbene Mensch ist nicht nur ein Individuum, von dem ich die Lebensdaten aufnehme und mir wichtige Stationen seines Lebens erzählen lasse. Ich nehme ihn als soziales Wesen wahr, eingebunden in Dynamiken, die das menschliche Leben und Zusammenleben ausmachen. Das finde ich bei Trauerfeiern wichtig, denn ich spreche nicht nur über den verstorbenen Menschen, sondern auch zu den Menschen, die zu dem komplexen Beziehungsnetz des oder der Verstorbenen gehören.

Meine erste Familienaufstellung habe ich vor vielen Jahren im Kontext einer Psychotherapie gemacht. Ich konnte am eigenen Leib erleben, wie tief sich die Geschichten in meiner Familie auf mich auswirken. Seitdem nutze ich das Werkzeug der Aufstellung immer mal wieder, wenn mich persönliche oder berufliche Themen beschäftigen. Für einige Jahre habe ich in Aufstellungsseminaren bei einem befreundeten Therapeuten assistiert und wertvolle Einblicke in die innere Struktur von Familien erhalten.

Trauerfeiern und systemischer Blick auf die Familie

So hat dieser „systemische Blick“ von Anfang an in meinen Begleitungen von Familien bei Trauerfeiern eine Rolle gespielt. Ich frage in meinen Gesprächen nach, wer alles zur Familie gehört. Manchmal erzählen die Angehörigen erst im Laufe des Gesprächs, wenn das Vertrauen zu mir gewachsen ist, wichtige Details. Diese Informationen helfen mir, den verstorbenen Menschen besser zu verstehen oder benennen die spürbaren Spannungen in der Familie. Oft sind diese Details unangenehm, mit Scham verbunden oder werden nicht erzählt, weil die Menschen Angst haben, dass sie in der Trauerrede öffentlich werden.

Wer kennt sie nicht als Trauerrednerin/ als Trauerredner: Die Kinder aus erster Ehe, zu denen schon vor Jahren der Kontakt abgebrochen ist. Die früh verstorbene Schwester der Mutter, die die schon so lange tot sind, dass man ihren Namen nicht mehr erinnert. Den Vater, der im Krieg geblieben ist, mit der Trauer um ihn, die sich wie ein Schatten über das ganze Leben gelegt hat. Den Ex-Mann, den man am besten gar nicht erwähnen soll.

Das alles gehört zum gelebten Leben dazu. Wenn ich darüber spreche, dann behutsam, ohne die oft verwirrenden Geschichten drumherum und vor allem ohne Wertungen. In manchen Fällen spreche ich mit den Angehörigen genau ab, was ich wie über dieses Thema sage.

Warum ich mir überhaupt Gedanken über die Familie mache? Wenn ein Mensch gestorben ist, müssen die Angehörigen eine neue Balance im Umgang miteinander finden. Manchmal sitzen Familienmitglieder gemeinsam in der Trauerhalle, die sich seit Jahren nicht gesehen haben. Verfeindete Angehörige gehen hinter der Urne zum Grab. Das alles ist atmosphärisch sowieso spürbar. Dieses Aufeinandertreffen beschäftigt die Menschen im Vorfeld. Beim aktuellen Abschied kommen frühere Verluste wieder in Erinnerung, die Trauer um diese Menschen ist mit im Raum.

Das Wissen um die Dynamiken in einer Familie und die schwierigen Themen macht den Blick auf ein Leben erst vollständig. So sind heilsame Impulse in der Trauerfeier möglich, die alle Aspekte des Lebens anerkennen. Im Fokus ist dabei nicht die Schwere in diesen Themen, sondern die Fähigkeit des verstorbenen Menschen und der Familie mit den Brüchen im Leben umzugehen. Manchmal hilft das Vergessen oder der Kontaktabbruch, Dinge zu bewältigen.

Das geht gut zusammen mit der einen oder anderen Anekdote, die die Trauergäste schmunzeln lässt. Oder einem Schlager, der die Liebe eindimensional in rosaroten Farben besingt. Das schließt nicht aus, dass in der Trauerrede von den Lebensstationen die Rede ist, von Leidenschaften und Hobbys, Ehrungen und Verdiensten. Der systemische Blick ergänzt und vertieft.

Werkzeug für Trauerredner: das Genogramm

Mit einem Genogramm wird in vielen sozialen Arbeitsfeldern gearbeitet, vor allem in der Familienforschung, der Medizin, der Psychotherapie und der Sozialarbeit. Je nach Erkenntnisinteresse werden verschiedene Daten erfragt.

Mit dem Genogramm wird die Familienstruktur visualisiert. Es besteht aus einfachen Symbolen, von denen jedes für ein Familienmitglied steht und verbindenden Linien, aus denen das Verwandtschaftsverhältnis sichtbar wird. So lässt sich die Struktur einer Familie übersichtlich darstellen.

Anders als in der Therapie oder Familienberatung wird für die Trauerrede das Genogramm nur als Instrument der Darstellung der Struktur einer Familie verwendet, nicht zur Deutung der Beziehungen in der Familie. Manchmal lenken jedoch die Informationen den Blick auf ein Ereignis, das für den Verstorbenen sehr prägend war (früher Tod eines Elternteils, Suizid eines Angehörigen, frühe Trennungen). Wie dieses Ereignis sich auf den Verstorbenen ausgewirkt hat, kann dann im Gespräch weiter erfragt werden.

Für die Trauerrede müssen nicht alle Daten vollständig erfasst werden, sondern nur die, die wichtige Informationen in Bezug auf den Verstorbenen darstellen. Vor allem bei sogenannten Patchworkfamilien hilft das Genogramm dabei, nicht den Überblick zu verlieren und in der Traueransprache niemanden zu vergessen, der begrüßt oder erwähnt werden muss.

Als ich vergessen habe, die Schwester des Verstorbenen zu erwähnen, habe ich unkonzentriert gearbeitet und vor der Trauerfeier nicht noch einmal überprüft, ob alle im Familiensystem in der Rede ihren Platz haben. So durfte ich erleben, wie es sich auswirken kann, wenn meine Achtsamkeit nachlässt.

Einladung zum Seminar

Mit einem Blick auf das Familiensystem an die Trauerrede heranzugehen und dazu ein Genogramm zu nutzen ist ein machtvolles Werkzeug, um zutreffend über den verstorbenen Menschen und unterstützend zu den Trauergästen zu sprechen. Dazu habe ich ein Seminar entwickelt, zu dem ich dich herzlich einlade.

Du lernst eine Herangehensweise – die systemische Sichtweise – kennen, die zu einer inneren Haltung wird. Das kann dir helfen, mit besonderen Todesfällen, komplizierten Gesprächssituationen und vermeintlichen Pannen umzugehen. Man braucht etwas Übung, um das Familiensystem aufzuzeichnen, ohne auf die Übersicht der Symbole und Prinzipien schielen zu müssen.

Im Einzelnen geht es in dem Seminar darum

  • den systemischen Ansatz für deine Arbeit nutzbar zu machen
  • den Umgang mit dem Genogramm zu üben
  • mit Patchworkfamilien oder unübersichtlichen Familienverhältnissen besser umgehen zu können
  • Formulierungen für schwierige Familiensituationen zu finden
  • niemanden zu vergessen, der in der Rede begrüßt oder erwähnt werden sollte

Die Erkenntnisse der Systemtheorie und von Familiendynamiken ermöglichen eine Arbeitsweise, die frei ist von Wertungen. Der systemische Ansatz ermöglicht es, einen verstorbenen Menschen über seine Lebensdaten und Interessen hinaus, innerhalb seiner Familie, seinen Prägungen und seinen Herausforderungen im Leben zu beschreiben. Im Fokus der Trauerrede sind so die Menschen in ihren Beziehungen.

Das Seminar „Familiensysteme – Mit systemischem Wissen Gespräche und Trauerreden achtsam gestalten“ findet vom 5. – 6. November 2022 in Gießen statt.

Alle Informationen und das Anmeldeformular findest du, wenn du den Button klickst.


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